Während ehemalige Szenefestivals wie die Fusion weiter zu monströsen Größen wachsen, tobt sich ein kleines familiäres Festival an der Ostsee in eine ganz andere Richtung aus. Das Tag Am Meer auf Rügen besticht durch sein limitiertes Kartenkontingent und ein Feeling, das durchaus als jährlicher Kurzurlaub in die Festivalhistorie eingehen darf.
Sekt und Salzwasser? Ich denke mehr Klicks würde an dieser Stelle der Titel „Sex und Salzwasser“ bringen. Wir wollen aber Punkt A) bei der Wahrheit bleiben und Punkt B): Ja, Sekt hat diesen Jungsausflug im Juli 2016 an die Ostsee durchaus geprägt. Doch stellen wir die Uhr auf Anfang. Das Tag Am Meer rüstet dieses Jahr gehörig auf. Während die drei vorangegangenen Editionen immer schick aber auch ausschließlich auf dem Strand vor dem historischen Koloss von Prora, einer geplanten Ferienanlage des dritten Reichs, gefeiert wurden, durften die Macher (der Landjugendverband Mecklenburg-Vorpommern) dieses Jahr erstmals eine zweite Area im bewaldeten Naturschutzgebiet einweihen. Auch spezielle neue Angebote für Kinder wollten das Festival für Familien attraktiver machen.
Rüganer im Wäldchen
Geglückt sind die neuen Ideen der Veranstalter allemal, konnte mit dem zweiten Floor erstmals Künstlern der Insel Rügen eine eigene Plattform auf dem Tagesfestival gegeben werden. Vom Soundspektrum ein Grenzgang, lief zwischen Tracks von Stephan Bodzin und Hip-Hop ala Großraumdisse so ziemlich alles, was Musik eben hergibt. Schlager und Volksmusik mal ganz ausgeschlossen. Angenommen wurde die charmante Tanze im Wäldchen aber ab der ersten Sekunde – ein Zeichen, dass diese Neuerung aufging.
Wo ist die Sonne?
Das Wetter war wie beim Lieblingsitaliener bestellt: Samstagmittag Sonnenschein, nachmittags einige Wolken und ein paar Minuten leichter Nieselregeln, alles aber bei angenehmen 22 Grad. Klar war schon jetzt – das wird nach unserem ersten Besuch 2015 wieder einer für die eigenen „Geschichtsbücher“. Im Gepäck haben wir, das sind Jens, mein Bruder Lucas und meine Wenigkeit nicht nur nötiges Campingzubehör, sondern auch ein bisschen Flüssignahrung. Quasi zur Unterstützung des breiten Angebots auf dem Gelände. Neben Bier ist erstmals Sekt mit an Bord der VW-Schüssel.
Ein paar kleine Eindrücke – gefilmt vom Ostseebad Binz:
Mittags ins Meer
Nach unserer Ankunft, die von einer nicht funktionierenden Schranke und einem gut aufgelegten Securitymitarbeiter versüßt wurde, rennen wir schnurstracks in die Ostsee. Klar, genau diese Möglichkeit macht das Tag Am Meer aus. Musik am Strand mit der Portion Kurzurlaub, die ein Ausflug auf Rügen nicht nur für Großstädter aus Berlin so beliebt macht. Es ist der milde Salzgeschmack des Brackwassers, die sandigen Füße und dieser leichte Luftzug um die aufgeheizten dunklen Haare, die uns auch 2016 wieder hunderte Kilometer aus dem Süden (von Würzburg nach Berlin, anschließend nach Prora) an den Strand lockt. Das in Kombination mit elektronischer Musik und rund 2 000 Gästen ist eine Rezeptur, die nächstes Jahr ihr erfolgreiches Fünfjähriges feiert.
Die Stage
Nach unserem kurzweiligen Badevergnügen ist der Himmel bedeckt – perfekte Verhältnisse um die Bühne zu inspizieren. Sie ist es kleiner geworden, etwas verspielter dekoriert als noch 2015. Ein hölzernes Steuerrad hängt hier beispielsweise, alles ist farblich in braunen Holztönen gehalten. Der DJ hat 2016 deutlich mehr Kontakt zum Publikum, da die Stage etwas niedriger ist. Als wir an diesem Samstagnachmittag zum ersten Mal die sandigen Gefilde vor den kleinen wummernden Basstürmen betreten, spielt Tagträumer² alias Robert Stolt, der zum Veranstalterteam gehört. Er hat sich in diesem Jahr Acts wie beispielsweise Bonjour Ben aus Rostock oder auch die Berliner Soukie und Windish eingeladen. Einziger Wehrmutstropfen: Giorgia Angiuli kann ihr Liveset nicht spielen. Sie muss wegen einem Sturm in Florenz absagen, da sämtliche Flüge gestrichen wurden.
Der Sekt
Nach einem ersten Eindruck, ein paar getanzten Schritten und kurzweiligem Badevergnügen marschieren wir zum Auto. Das ganze Gesöff wird sowieso nicht besser – das ist eine altbekannte Weisheit. Mit 80er-Musik aus den Boxen unseres Golf GTIs machen wir es uns gemütlich und eröffnen nahe des Crew-Camping-Geländes für kurze Zeit unseren eigenen Floor. Hier ist alles offen, hier ist keine Chefpolizei, die kontrolliert, die hermetisch abriegelt. Hier sind Leute, die open-minded feiern möchten, die gerne neue Leute kennenlernen und vor allem eines sind : tolerant. So haben wir auch dieses Jahr das Tag Am Meer erlebt.
Ein paar “Tag Am Meer”-Eindrücke auf Snapchat (Snap-ID: manuel.scholze)
Die Headliner
Es wird gerade langsam dunkel, als Soukie und Windish ihr DJ-Set abfackeln. Ein sichtlich gut gelaunter Fritz Windish zeigt, dass auch bekannte DJs gerne vor einer etwas übersichtlicheren Crowd spielen. Bei diesem Ausblick auf die Ostsee, an deren Strand zeitweise auch eine kleine Yacht angelegt hatte, um ein wenig zu „beobachten“, ist die gute Laune der einzelnen Bookings wohl auch kein Wunder.
Nacht und Leute
Der Pegel steigt, der Sound wird treibender, die Gesichter verschwimmen: die Dunkelheit im Sommer unterscheidet sich von der im Winter. Vielleicht mag es an der Wärme liegen, vielleicht einfach nur an der Grundeinstellung der Menschen. Hunderte Körper tanzen auf dem Strand, in der Menge ist eine Figur auf einem Holzstab mit Glühlampen zu sehen – ganz im Fusionstyle. Das Teil hat jemand mit Liebe zum Detail gebastelt. Nebenan formt ein Team mit überdimensionalen Netzen Seifenblasen die in den Himmel aufsteigen. Bis kurz nach 1 dröhnt der Sound auf dem Strand, der lautstärketechnisch sowieso in einem sehr annehmbaren Bereich ist. Im Wäldchen war schon ein wenig früher Schluss.
Das Tag Am Meer ist ein Festival, das früh startet und früh endet – ein Ferien-Domizil, das eben nicht nur für die Trinkerjugend, sondern auch für Herrschaften um die 40 mit Kindern gemacht ist.
Als die Musik verstummt, helfen auch einige flehende und bettelnde Blicke nicht, um den DJ wieder an den Sound zu bekommen. Relativ schnell leert sich der Strand. Hier gibt es keinen Stress, kein Gezanke. Hier herrscht Feiereinigkeit. Es ist rum auf dem Tag Am Meer (heißt ja auch nicht Nacht am Meer), ein bisschen gefeiert kann auch auf dem Zeltplatz aber noch werden. Der ist dieses Jahr überraschenderweise relativ ruhig, liegt vielleicht daran, dass viele Festivalgänger sich 2016 in die anliegende Jugendherberge eingemietet hatten. Logischerweise gibt es hier etwas mehr Komfort als mit der Isomatte auf dem Schilf.
Sonntag, meine Fresse!
Mit Schädel aufwachen? Denkste! Selten ging es (zumindest mir) nach einer Nacht mit so einer Menge Flüssiggedöhns so gut. Liegt möglicherweise an den Sonnenstrahlen, die mich vergnügt zum Morgenappell antanzen lassen. Schon um 10 Uhr liegen wir drei Jungs am Strand, die Sonne scheint, es ist irgendwas um die 23 Grad und die Ostsee ist erfrischend kühl. So verbringen wir die letzten Stunden auf einem Festival, das nach dem Vormittag schon fast abgebaut ist. Erst am Nachmittag fängt es an zu regnen und die tief liegenden Wolken geben das beste Signal, um sich wieder zurück in Richtung Hauptstadt zu machen. Was bleibt am Montag?
Die Erkenntnis, dass mehr eben meistens nicht mehr ist, sondern weniger (!), dass feiern auf dem Strand deutlich schöner sein kann als auf einer hart betonierten Tanzfläche und ja – dass Sekt gar nicht so ekelhaft ist, wie ich es noch vor einigen Jahren dachte.