Yumi ist mit Marco hier. Beide kennen sich vom letzten Jahr. Marco trifft auf Simon aus Berlin. Beide kennen sich vom letzten Jahr. “Ich war 2014 schon hier” scheint hier so etwas wie das geflügeltes Wort oder auch die Eintrittskarte zu einem exklusiven Club unter all’ denjenigen zu sein, die sich Tickets für das “Tag am Meer” in Prora auf Rügen sichern konnten. Denn diese sind immer auf ein geringes Maß limitiert. 2015 war das Festival schon vier Monate zuvor ausverkauft.
Samstag, 18.07.2015, 8.15 Uhr. Der Wecker schellt seinen täglichen liebevollen und doch so unbarmherzig wirkenden Wachmach-Blues. Es ist eben doch der Wolf im harmonischen Schafspelz, existiert seit Aufkommen des Smartphones doch kaum mehr ein böser Klingelsound. Vielmehr weckt dich ein herrliches Konzert aus Amselrufen und einer zarten Geigensynphonie, die jeglichen Traum zunichte macht. Die Reste der Vornacht sind heute (Gott sei es gedankt) schnell aus den Knochen geschüttelt. Noch die Begleiter wecken, letzte Essentials einpacken und dann rein in den Golf. Es ist Ferienanfang in Mecklenburg-Vorpommern, der Rügendamm dürfte wohl dicht sein – unser Ziel ist Prora, die Austragungsstätte des familiären Festivals “Tag am Meer“, direkt vor der von Hitler geplanten Massenferienanlage auf Prora. Eine wunderschöne Location am Strand mit so viel Geschichte – das schindet ordentlich Eindruck.
Wir kommen gut voran, das Navigationssystem gehört zur letzten Generation und erkennt Stau teilweise schon bevor er überhaupt exisitert. Ein wahrgewordenes Wunderwerk der Technik. Die Fahrt von Berlin ist entspannt, Stralsund schnell erreicht. Warum ist das Wetter so gut? Gemeldet waren für das Wochenende 20 Grad, bedeckter Himmel, teilweise Schauer. Nichts davon ist zu entdecken. Die eine oder andere Wolke hat sich vielleicht verirrt, die Sonne ist aber allgegenwärtig. In der Vornacht hat es bei einem heftigen Gewitter noch geregnet.
Der Sandstrand vor dem “Koloss von Prora”
Wir kommen an, packen aus, bestaunen den “Koloss von Prora”, die Ferienmaschine die tausenden Bürgern der Mittelschicht im dritten Reich bezahlbare Ferien ermöglichen sollten. Heute ist hier ein Museum und eine Jugendherberge untergebracht, der Rest soll saniert werden – zu Luxuswohnungen. Wer zum Tag am Meer will, muss erst einmal durch die Anlage durch und findet sich im einem Wäldchen wieder, der gleichzeitig einen Teil des Naturschutzgebiets vor dem herrlichen Sandstrand bildet. Bunte Girlanden und mit Wimpeln verzierte Absperrungen weisen den Weg zur Quelle des elektronischen Sounds. Und da ist sie schon – die Ostsee mit ihrem tollen Sandstrand. Hunderte Festivalbesucher haben sich um 14.00 Uhr bereits auf das Gelände veirrt. Die ersten DJs, darunter beispielsweise Masterton (hier im Feelectronica.de-Interview) haben schon aufgelegt. Es folgen noch Bondi, Tagträumer², Tala oder auch Schlepp Geist, letzterer gleichzeitig Headliner der Veranstaltung.
Selbstgebastelter Leuchtturm, offene See
Was machst Du bei 25 Grad und purem Sonnenschein? Du gehst baden! Badebuxe an, rein in die Ostsee. Das Wasser ist so angenehm, die Bässe schallern über die Bucht mit Blick aufs offene Meer vor der kleinen Rügener Gemeinde Prora. Hier ist alles wie aus dem Bastelkasten gestaltet. Ein kleiner Leuchtturm aus Holz und Stoff fällt ins Auge, die Bühne ist puristisch, doch später wird sie durch ihre Discokugel und die gewählten Lichtelemente ihre Wirkung noch entfalten. Es gibt verschiedene Essensstände mit Crepes und Burgern, der Bierpreis ist mit 2,00 Euro so niedrig wie in der Studentenkneipe. Das eine oder andere habe ich bereits “im Gesicht”, als Veranstalter Tagträumer² sommerliche Housesounds mit treibenden Grooves aus seiner Vinylkiste verbindet.
Musikalischer Höhepunkt: Schlepp Geist
Nach einer kleinen Brotzeit am Auto gibt es um 22.30 das musikalische Highlight des Tages. Eben lief er noch an mir vorbei, der Sebastian alias Schlepp Geist (hier im Feelectronica.de-Interview). Er kommt relativ knapp vor seinem Auftritt, es bleibt gerade genug Zeit für den Aufbau seines Livesets. Eine Stunde lang ballern hier einem die neuen Technostücke des Rostocker Acts um die Ohren. Wahnsinnig! Dieses Set ist leider zu schnell vorbei, doch Jade aus Beirut weiß im Anschluss mit Tracks wie “Der Die Das” von Kölsch das Level weiter oben zu halten. Aus dem Tag am Meer wird dann relativ plötzlich die Nacht am Meer. Das Licht der Bühne ist nicht oppulent, aber liebevoll zum Detail gestaltet. Irgendwann gibt es ein kleines Feuerwerk, wir beglückwünschen uns zum neuen Jahr – was, schon wieder 2016? Lange Luftballonketten mit innwändigen Lichtern und Helium gefüllt erzeugen ein wenig diese Festivalstimmung, die für so ein kleines Eventam Meer gewünscht wird.
Schlepp Geist beim Tag am Meer:
Beim Tag am Meer kennen sich die Leute. Überwiegend kommen sie aus Berlin, viele “Rüganer” sind ebenfalls hier und suchen nach Ausgleich auf der sonst doch relativ ruhigen Tourismusinsel. Auch Hamburger und ein paar Menschen aus dem benachbarten Ausland haben sich an die Ostsee gefunden – es gibt Kurzurlaub für das Gehirn. Inklusive Wellenrauschen und verschiedenen elektronischen Musikstilrichtungen.
Jago K: Mit Herzblut und Massive Attack
Das letzte Set spielt Jago K von Rauschzeit aus Berlin. Die erste halbe Stunde ist überwältigend. Funk trifft auf festivaltaugliche epische Harmonien. Jago spielt Vinyl, er ist ganz bei seiner Sache, trifft jeden Vinyl-Übergang, hat offensichtlich einen richtig guten Tag und eine tolle Zeit. Bei Massive Attack singt er mit und zeigt, dass hier keine großen Namen wichtig sind, sondern ein alter Freundeskreis, der dieses Festival mit dem Landjugendverband Mecklenburg-Vorpommern auf die Beine stellt.
1.40 Uhr ist die Musik auf Zimmerlautstärke und Jago K beendet diesen “Tag am Meer”. Er bedankt sich mit nach oben gereckten Daumen und dem mehrmaligen Ausruf “Ihr seid spitze” – das ist emotional, verlangt eigentlich sogar nach noch einer neuen Nummer. Der Techniker hat während des Sets aber schon einiges abgebaut. Es ist wohl Zeit: Zeit fürs Zelt. Luftmatraze kaputt, die halbe Nacht am pusten, Bruder schnarcht, Schlaf Fehlanzeige, Glücksbarometer sicherlich trotzdem weit über dem normalen Pegel.
Die raue Seite der Ostsee
Der Sonntag zeigt die Ostsee von einer anderen Seite. Der Himmel ist wolkenverhangen, die Temperatur um einige Grad gefallen. Vielleicht um 10 oder so, vielleicht sogar ein bisschen mehr. Nach ein paar letzten Stunden am Strand beginnt es um 11.26 Uhr zu regnen. “Wenigstens macht uns das den Abschied von der Ostsee etwas leichter”, sagt mein Bruder. Recht hat er und wir sind angetrieben, das Zelt in Rekordgeschwindigkeit in seinem überdimensionalen Kondom verschwinden zu lassen. 11.50 – da hat sie uns wieder ausgespült, die Ostsee. Raus aus Rügen, rein nach Berlin. Das Wetter besser, aber die Stimmung?
Fotos vom Event findet ihr hier:
Samstag, 18.07.2015 – das Tag Am Meer war mit seinem Headliner Schlepp Geist und viel Liebe zum Detail ein Highlight unter den kleinen familiären Festivals in Deutschland.
Posted by Feelectronica.de on Sonntag, 19. Juli 2015